Fährt man auf der Panamericana von Puerto Montt kommend Richtung Norden, erblickt man bei San Carlos eine eher unscheinbare Hinweistafel, die den Weg zur Villa Baviera weist. Diese Siedlung, die mit selbstgemachten Produkten, gelegentlichen Bierfesten und deutscher Rührseligkeit in der Emigration wirbt, überdeckt mit neuem Namen die Stätte eines bestialischen Langzeitverbrechens, das viele Facetten der Kriminalität beinhaltet. Von Kindesmissbrauch bis Korruption, von Drogenhandel bis vielfachem Mord reicht die Spannbreite.
Besser bekannt ist diese dunkle Stätte als „Colonia Dignidad“. Dies war das private Anwesen von Paul Schäfers Sektensiedlung, in der er einen terroristischen Ministaat aus Gewalt, Unterdrückung und Vergewaltigung von Kindern aufbaute.
Paul Schäfer wurde 1921 in Troisdorf bei Köln geboren. Bereits als Kind verlor er durch einen Unfall ein Auge, wodurch er das später für ihn charakteristische Glasauge erhielt. Entgegen seiner Darstellungen war er niemals Wehrmachtsoffizier, sondern überstand als Sanitätsgehilfe den Zweiten Weltkrieg an der Westfront. Nach dem Krieg war er zunächst Hilfsarbeiter und dann in der Kinderbetreuung im christlichen Umfeld tätig, wo sich bald seine pädophile Neigung zeigte. Wie damals üblich (die Üblichkeit ergibt sich aus der Querschau diverser Fälle mit ähnlichem Ausgang), wurden sich mehrende Gerüchte, wonach sich Schäfer durch Gewalt und sexuelle Übergriffe an den ihm anvertrauten Kindern vergehe, mit diskreter Entlassung statt mit gerichtlicher Aufarbeitung beantwortet.
Nach diversen Engagements im protestantischen Bereich gründete Schäfer mit dem talentierten Redner Hugo Baar, der ihm bald in Hörigkeit verfiel, eine religiöse Bewegung mit „Gütergemeinschaft angelehnt an die christliche Urgemeinde“, wie sie vorgaben. Mit apokalyptischen Horrorvisionen gelang es ihnen Gläubige um sich zu scharen, die schon bald dazu gebracht wurden ihr gesamtes Leben in den Dienst Schäfers zu stellen. Im Laufe der Zeit formte Schäfer aus einem Jüngerkreis eine geschlossene Gesellschaft von ihm Hörigen, die neben bedingungslosem Gehorsam auch zur Überschreibung ihres gesamten Vermögens verpflichtet wurden. Doch damit nicht genug: Familiäre Bindungen außerhalb der Gemeinschaft sollten aufgegeben werden, durch Beichtzwang, psychologischen Druck, religiöse Wahnphantasien und ein System an drakonischen Strafen gelang es Paul Schäfer, seine Anhänger völlig unter seine Kontrolle zu bringen. Das Vermögen der Anhänger investierte er in die Errichtung eines Jugendheimes, ansonsten lukrierte der durchaus geschäftstüchtig agierende Schäfer Einkünfte durch Verpachtung von Einzelhandelsgeschäften. Seinen Anhängern gebot er sexuelle Askese und Geschlechtertrennung, während er sich immer öfter und offener an den männlichen Kindern und Jugendlichen der Gemeinschaft verging: Sie wurden „Sprinter“, wie der der Peiniger seine Opfer euphemistisch bezeichnete.
Kindesentführung mit staatlicher Förderung…
1961 wurde es Paul Schäfer in Deutschland zu heiß: Aufgrund der Vergewaltigung zweier Jugendlicher erließ die Staatsanwaltschaft Bonn Haftbefehl. Daraufhin verließ Schäfer mit seinen ihm hörig untergebenen Anhängern und zahlreichen ihm anvertrauten Kindern Europa in Richtung Südamerika. 150 Jugendliche wurden in einer Nacht- und Nebelaktion entführt und mittels eines Charterfluges nach Südamerika verfrachtet, viele Anhänger wurden unter der Androhung, ein sowjetischer Angriff auf Deutschland stehe bevor, mitgelockt. Das bis dahin als Sektenzentrum genutzte Areal im Bergischen Lohmar konnte der gerichtlich gesuchte Schäfer noch an die deutsche Bundesregierung (!) verkaufen. Mit dem Erlös von kolportierten 900.000,– DM konnte später die Finca in der Nähe von Parral in Chile gekauft werden, aus der dann seine Vergewaltigungsfestung werden sollte. Heute fragt man sich, wie dies alles unter den Augen der Öffentlichkeit und der staatlichen Verwaltung möglich war, zahlreiche Minderjährige offen ins Ausland zu entführen – und dafür noch durch Verkaufserlöse eine „staatliche Reiseförderung“ zu erhalten.
Im fernen Chile ließ sich Schäfer nieder und gründete die Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad, genannt Colonia Dignidad. Siedlung der Würde. Ein doppelter Hohn, denn weder freiwillige Ansiedelung noch Würde waren Schäfers Werke, er schuf vielmehr ein Privat-Konzentrationslager seiner Gewaltsekte.
In der facettenreichen Verbrechensgeschichte der Colonia Dignidad sind im Großen und Ganzen drei Themenkreise zu lokalisieren:
- Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch den Führer eines faschistischen Mikrokosmos.
- Kampfstoff-Entwicklungslabor und Foltergefängnis des chilenischen Geheimdienstes DINA
- Internationale Kontakte auf geheimdienstlicher und politischer Ebene
15.000 ha stark umzäuntes Gebiet umfasste Schäfers kleine Diktatur. Durch verordnete Zwangsarbeit wurde das Land schnell urbar gemacht und nach außen hin als Mustergut präsentiert. Das Krankenhaus, in dem die arme Landbevölkerung der Umgebung gratis behandelt wurde, fungierte als Aushängeschild. Kinderheim und Internat dienten zur Rekrutierung von Sektennachwuchs – und Opfernachschub.
Und die Colonia Dignidad begann sich dem Regime zu nähern – wahrscheinlich eingefädelt durch den Lagerarzt Hartmut Hopp. Dieser, schon in Deutschland als Jugendlicher dazugestoßen, war vermutlich selbst ein „Sprinter“ Schäfers und einer der wenigen, die für Ausbildungszwecke das Lager verlassen durften. Später avancierte er zu einem Paladin des Sektenführers.
Der Anknüpfungspunkt zum Regime war möglicherweise die Pädophilie. Chilenische Überlebende der Kolonie behaupteten oft, dass Kinder an hochrangige Funktionäre des Regimes zur Auslebung ihrer Phantasien verliehen wurden. [4] Vielleicht entwickelten sich über die vergewaltigten Kinder die Kontakte zwischen Lager und Regime.
Die chilenischen Rechtsextremen der Gruppierung Patria y Libertad und die berüchtigte Geheimpolizei DINA fanden in der hermetisch abgeschotteten Zwangssiedlung ideale Bedingungen für einen Rückzugsort vor: Einen ausbruchssicheren Mikrokosmos des Terrors, der keine interessierten Blicke hinein und keine fluchtwilligen Schritte hinaus ließ.
Man errichtete innerhalb der Mauern ein Foltergefängnis für politisch missliebige Personen, die man (in deutsche Obhut) verschwinden ließ. In der Rückgezogenheit der Kolonie errichtete das Labor für bakteriologische Kriegsführung des chilenischen Militärs eine Produktionsstätte für Kampf- und Giftstoffe. Der weiter unten erwähnte Michael Townley, offenbar Mittelsmann zwischen DINA und CIA, gab 2005 die Errichtung dieses Versuchslabors in der Colonia zu, ebenso wie den Einsatz der Stoffe zu Folterzwecken im angeschlossenen Gefängnis.
Als das Verbrechen langsam ruchbar wurde, entwickelte sich eine seltsame Komplizenschaft: Die Colonia erhielt Rückendeckung aus Deutschland. Aus hohen, höchsten politischen Kreisen.
„Geradezu vorbildlich bewirtschaftete Siedlung“
Als Amnesty International 1977 schwere Menschenrechtsverletzungen anprangerte, ließ sich der deutsche Botschafter Erich Strätling in der Colonia hofieren und spricht von einer „geradezu vorbildlich bewirtschafteten Siedlung“ und verwirft alle Anschuldigungen als Gerüchte. Wie der Journalist Wolfgang Kaes später nachweisen kann, pflegten Strätling und Schäfer freundschaftliche Kontakte.
Gute Verbindungen zu den konservativen Parteien CDU und CSU sind belegt: Der Münchner Stadtrat Wolfgang Vogelsgesang sowie Bayerns Ministerpräsident Franz-Joseph Strauss besuchten, lobten (und wohl auch: deckten) die Colonia, der CDU-Bundestagsabgeordnete Adolf Herkenrath verharmloste deren Verbrechen öffentlich.
Der ehemalige SS-Mann und Waffenschieber Gerhard Mertins, dem zahlreiche Neonaziaktivitäten vorgeworfen wurden, beliefert den Angaben von Geflohenen zufolge Chile mit Waffen – in Umgehung eines Embargos und unter Ausnutzung von Zollprivilegien der deutschen Siedlung. Mertins gründete 1978 den „Freundeskreis Colonia Dignidad“, dem laut dem Enthüllungsjournalisten Gero Gemballa mehrere zig Personen aus Wirtschaft und Politik Deutschlands angehörten, etwa auch Gerhard Löwenthal, zu seiner Zeit ZDF-Starjournalist…
Auch der Soziologe Lothar Bossle, in den 1970ern Kuratoriumsmitglied der in Frankfurt ansässigen Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, unterhielt gute Kontakte zu Colonia und Regime. (Aber das Verharmlosen von pro-westlichen Diktaturen und deren Verbrechen gehörte damals offenbar zu den Grundsätzen der IGMR.) Welche Rolle der Generalbundesanwalt Ludwig Martin als zeitweiliger Kuratoriumspräsident der IGMR spielte, muss hier offen bleiben. Noch 1987 warnte jedenfalls Lothar Bossle seine Freunde der chilenischen Junta, dass ein etwaiges Bekanntwerden der Verbrechen der Colonia dunkle Wolken über den Beziehungen zwischen den beiden Ländern provozieren könnte.
Über alle Verbindungen zu Deutschland war der deutsche Bundesnachrichtendienst bestens unterrichtet, wie die Journalistin Gaby Weber [1] recherchierte. Als sie jedoch 2009 Akteneinsicht nehmen wollte, stellte sich heraus, dass die Akten im Rahmen einer Notvernichtung in aller Eile beseitigt wurden. In welcher Not sich der Geheimdienst sah, Beweismaterial verschwinden zu lassen, bleibt leider unbeantwortet. Die in solchen Situationen entstehenden Verdachtsmomente sind der Stoff, der von Politik und Medien dann gerne als „Verschwörungstheorien“ verunglimpft werden.
„Pathologisches Persönlichkeitsprofil…“
Doch noch einmal zurück in die Achtziger Jahre: Denn da geschieht dann doch ein Umdenken in der deutschen Botschaft.
Entscheidendes kann man noch nicht unternehmen. Denn das behauptete Unrecht kann man noch nicht beweisen und von chilenischen Stellen ist keine Unterstützung zu erwarten. Die deutsche Botschaft – nun unter anderer Leitung – will Mitte der 1980er Jahre die Colonia offiziell untersuchen lassen. Eine konsularische Sprechstunde konnte erzwungen werden, bei der die niederrangigen deutschen Diplomaten Zustände „wie im KZ“ vorfinden.
Der damalige Botschafter Horst Kullak-Ublick besucht November 1987 die Anlage zu einer konsularischen Sprechstunde. Und nimmt Paul Schäfer und seine Gefolgsleute, die wie willenlose und ausdruckslose menschliche Roboter agieren, ins Verhör. Das Außenamt attestierte Schäfer daraufhin ein „pathologisches Persönlichkeitsprofil, vermutlich wegen mehrerer traumatischer Erlebnisse“, dazu paaren sich „fanatisches Sendungsbewusstsein, gewalttätiger Realisationszwang“ und „tiefgreifende Lebensängste“. Als Gipfel seines kranken Inneren wird beschrieben: „Mangelnder Realitätssinn durch Wahrnehmungsabwehr und –verleugnung, wodurch er nicht persönliche Motive und Neigungen ausleben konnte.“ [2]
Die Botschaft will nun die Zwangsgemeinschaft aufbrechen und kündigt einen Besuch mit einem Geistlichen und einem Polizeigeneral an. Doch die mittlerweile äußerst negative Presse in Deutschland zeigt Wirkung: Der Helikopter mit der hochrangigen Delegation wird beinahe nicht landen gelassen. Kolonie-Außenminister Hopp verweigert den Zutritt und droht dem General mit seinen Kontakten zu Regierungskreisen, sodass man unverrichteter Dinge wieder abfliegt.
Die Haltung in Deutschland ändert sich erst, als Mitte der Achtziger Jahre vier Personen die Flucht aus dem Lager gelingt: Hugo Paar und seine Frau – Mitgründer der Sekte – und das Ehepaar Packmoor können entkommen. Dennoch dauert es Jahre, bis etwas – wenig – geschieht: 1988 kommt es zu einem emotionalen, aber letztlich ergebnislosen Bundestagsdebatte. Die vorgeladenen Botschafter Erich Strätling (1976-79) und Hermann Holzheimer (1983-86) erscheinen nicht. Dafür aber Schäfers Außenminister Hopp, der in salbungsvoller Rede die Kolonie verteidigt. Den wenigen geflohenen Opfern treibt es den Zorn empor. Mehr geschieht aber nicht. Denn zu wichtig ist die Kolonie für die chilenischen Machthaber der 1988 noch im Sattel sitzenden Militärdiktatur.
Denn die Verbindungen zur chilenischen Macht sind vielfältig: Gerhard Mertins fädelte 1977 einen diskreten Besuch von Manuel Contreras in Deutschland ein, bei dem es offenbar um Waffengeschäfte (mit Iran-Bezug?) ging. Contreras war der Chef des berüchtigten Geheimdienstes DINA, der sich in Folge des Putsches im Rahmen der sogenannten Operación Condor um die Ausschaltung möglicher Opositioneller und prominenter Widersacher kümmerte. Bekanntester Ausführender war der in Iowa geborene US-chilenische Doppelstaatsbürger Michael Townley, der laut Contreras als CIA-Mitarbeiter mit höchsten Vollmachten 1973 in Chile auftauchte. Townley organisierte bzw. beteiligte sich offenbar an der Ermordung von gleich mehreren Persönlichkeiten, die als potentielle Köpfe einer Oppositionsbewegung oder gar Exilregierung ausgemacht wurden.
Und alle ereilt ganz rasch der Tod…
Einer von diesen war General Carlos Prat, dem Vorgänger Pinochets als Oberkommandant der Truppen und prominenteste (noch am Leben befindliche) Figur der Allende-Regierung am 30. September 1973. Eine Woche zuvor war bereits Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda auf mysteriöse Weise an Herzversagen ums Leben gekommen, angeblich nachdem ihm eine unbekannte Substanz initiiert wurde. Im Zuge einer Untersuchung 2015 wurde bekannt, dass Neruda eine hohe Verseuchung durch Staphylococcus aureus-Bakterien aufwies. Er starb in der Santa María Clinic in Santiago, ebenso wie einige Jahre später der ehemalige Präsident Eduardo Frei Montalva. Dieser, anfangs Verteidiger, dann Kritiker des Regimes, starb dort an den seltsamen Folgen einer Operation an der Speiseröhre. Dass Frei Montalva eines natürlichen Todes verblich, mag angesichts der Tatsache, dass er 1981 versuchte, Pinochet abzusetzen, in sehr fraglichem Licht erscheinen. Ein 2010 angestrengter Prozess konnte Mord jedoch nicht eindeutig nachweisen.
Townley war auch der Drahtzieher des Anschlages auf den ehemaligen Botschafter Chiles in den USA Orlando Letelier, der sich als Wirtschaftswissenschafter und Literat als Kritiker der sogenannten Chicago Boys einen Namen machte und durch seine Arbeit die geplanten marktwirtschaftlichen Veränderungen Chiles öffentlich diskreditierte. Letelier wurde 1976 in Washington ermordet. Aufgrund starken Druckes der USA wurde Townley 1978 ausgeliefert. Nach einer milden Haftstrafe lebt er verdeckt im Zuge des Zeugenschutzprogrammes der USA und ist für justizielle Befragungen chilenischer Behörden kaum greifbar.
Jedoch kam es 2005 zu einer Anhörung über Frei Montalvas Tod. In dieser bestätigte Michael Townley die Beziehung zwischen dem Geheimdienst DINA, dem Militär-Institut für biologische Kampfstoffe (Laboratorio de Guerra Bacteriológica del Ejército) und Schäfers Colonia Dignidad. In der Abgeschiedenheit arbeitete der chilenische Biochemiker Eugenio Berríos an der Herstellung von Nervengiften und biologischen Kampfstoffen. Vor allem Sarin wurde erzeugt, das, als Gift eingesetzt, bei den Opfern Herzstillstand erzeugt. Dies wurde im Foltergefängnis, das die DINA in der Colonia betrieb, gleich ausprobiert. Mindestens 22 Gefangene der Diktatur überlebten die grausamen Misshandlungen nicht, ihre oft entstellten Leichen wurden verbrannt und auf dem Gebiet der Colonia verscharrt.
Ein Ende ohne Gerechtigkeit…
Der erste demokratische Präsident Patricio Alwyn setzte dem Privat-KZ ein Ende: Die Colonia wurde aufgelöst. Paul Schäfer setzte sich rasch ab, während der Lagerarzt Hartmut Hopp noch um die Eigentumsrechte kämpfte.
Schäfer verschwand von der Bildfläche und versuchte ab 1996 in Argentinien einer Verurteilung zu entgehen. Im Jahr 2005 wurde er von der argentinischen Polizei in einem Vorort von Buenos Aires gestellt und an Chile ausgeliefert. Im folgenden Jahr wurde er wegen Kindesmissbrauchs in (mindestens) 25 Fällen verurteilt, 2010 ist er in chilenischer Haft verstorben.
Hartmut Hopp wurde von der chilenischen Justiz wegen seiner Unterstützung Schäfers bei der Vergewaltigung von Minderjährigen unter zwölf Jahren in mindestens vier Fällen (die man den beiden eindeutig nachweisen konnte) und beim sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in 16 Fällen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt, der er sich jedoch durch Flucht zu Bekannten ins deutsche Krefeld entzog, wo er bis heute unbeschadet lebt.
Von der Justiz offenbar unbehelligt lebte übrigens auch Schäfers Stellvertreter Albert Schreiber – bei Verwandten in Deutschland untergetaucht.
Wie politisch hochbrisant die ganze Geschichte bis in jüngste Vergangenheit ist, beweisen die Umstände um Eugenio Berríos Tod: Mit Hilfe des Militärgeheimdienstes floh er nach der Transición („Wende“) Chiles nach Argentinien und weiter nach Uruguay, wo er nach offiziellen Angaben 1995 ermordet am Strand von Montevideo aufgefunden wurde. Allerhand Spekulationen rankten sich bald um seinen geheimnisumrankten Tod. Teils wurde behauptet, er sei von Leuten aus dem Dunstkreis DINA und Colonía ermordet worden.
Manuél Contreras offenbarte in einer Anhörung 2006 jedoch angeblich eine Version, die noch mysteriöser ist. Pinochet soll sein Regime anfangs vor allem durch den Handel mit Kokain gestützt haben. Dieses Kokain sollen militärische Labors (von denen eines davon eben in der Colonía Dignidad betrieben wurde) hergestellt haben. In „russischer“ Qualität, um dessen Ursprung zu verschleiern. Das Rauschgift sei in den USA unter Mitwissenschaft der US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA verkauft worden. Berríos Tod Jahre später sei dann laut Contreras nur vorgetäuscht worden, er sei gar nicht tot, sondern von der US-Drogenbehörde aus dem Geschehen genommen worden, um zu verhindern, dass in einem Justizverfahren Hintergründe zu Drogengeschäften und der Ermordung des chilenischen Diplomaten Orlando Letelier (der 1976 einem Komplott zum Opfer fiel, bei dem die CIA angeblich zusah) offenbar werden.
Ein unglaublicher Fall, der weltweite Kreise zieht. Denn auch der deutsche Enthüllungsjournalist Gero Gemballa, der sich Jahre lang mit der Colonía und ihren Verflechtungen beschäftigte, starb eines plötzlichen Todes. Die Süddeutsche Zeitung deutete dereinst an, Gemballa könne für seine Aufdeckungen ermordet worden sein. [3] Mit in der Colonía Dignidad selbst fabriziertem Gift, das Symptome eines Herzinfarktes vortäuscht. Und in welchem Zusammenhang das alles mit deutschen Stellen steht, das wurde ja vorsorglich vom BND gelöscht.
Endloser Horror…
Noch heute existiert der Ort des Horrors: Villa Baviera, Villa Bayern, nennt sich die Siedlung jetzt. Die Menschen, die dort leben, sind die Opfer von Paul Schäfers Vergewaltigungs-KZ und deren Nachkommen. Mit dem Verkauf von Torten und Honig aus eigener Erzeugung finanzieren sie ihr Leben: das einiger Täter und noch viel mehr Opfer, die, nach einem Leben in Gefangenschaft und Vergewaltigung, traumatisiert und erniedrigt, nirgendwohin können, als dort zu bleiben.
Der vorläufig letzte Akt dieses Dramas spielte sich im September 2018 ab: Paul Schäfers Außenminister Hartmut Hopp lebt, obwohl in Chile rechtskräftig verurteilt, unbehelligt in Deutschland. Das Landgericht Düsseldorf entschied, dass die in Chile verhängte Freiheitsstrafe nicht vollstreckbar ist, weil angeblich die Feststellung der Tatsachen durch die chilenischen Justizbehörden den deutschen Ansprüchen nicht genügte. [6]
Die Politik, jahrelang wissend, vertuschend, lahmarschig, nichtstuend, will jetzt Entschädigungen zahlen – und wie ach so nützlich für die Opfer – ein Dokumentationszentrum errichten. Oder, wie es Kanzlerin Merkel beim Staatsbesuch von Chiles Präsidenten Sebastián Piñera am 10. Oktober 2018 ausdrückte, einen „Lernort“[5]. Möge die Politik doch auch einmal lernen.
Zwei Bücher zur entsetzlichen und zugleich mysteriösen Geschiche der Colonia Dignidad, sind folgende:
Horst Rückert schildert seine Eindrücke so:
Das Blendwerk: Von der „Colonia Dignidad“ zur „Villa Baviera“
Gero Gemballas Buch aus dem Jahr 1998 ist leider nur noch antiquarisch erhältlich:
Zitate:
[1] (hier)
[2] https://www.n-tv.de/politik/Die-deutsche-Geheimakte-Colonia-Dignidad-article17658126.html
[3] https://www.sueddeutsche.de/politik/colonia-dignidad-gebunkerte-geheimnisse-1.283689
[4] https://www.heise.de/tp/features/Der-BND-und-die-fuer-Folter-und-Kindesmissbrauch-bekannte-Colonia-Dignidad-3544838.html
[5] https://www.dw.com/de/rohstoffe-und-reue-merkel-empfängt-chiles-präsidenten/a-45832164
[6] https://www.justiz.nrw/JM/Presse/presse_weitere/PresseOLGs/25_09_2018_/index.php